G.-H. Horn: Western European Liberation Theology

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Titel
Western European Liberation Theology. The First Wave 1924–1959


Autor(en)
Horn, Gerd-Rainer
Erschienen
Oxford 2008: Oxford University Press
Anzahl Seiten
314 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Benjamin Ziemann, University of Sheffield, Department of History

In diesem Buch schildert Gerd-Rainer Horn Personen und Institutionen des von ihm so genannten «progressive Catholicism» (1) von den 1920er Jahren bis zum Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils. Er behandelt dabei Kontexte und Ideen in Belgien, Frankreich und Italien in vergleichender Perspektive. Seine Darstellung basiert auf einer Auswertung der reichhaltigen Forschungsliteratur die in diesen drei Ländern entstanden ist, aber auch auf eigenen Forschungen in persönlichen Nachlässen und anderen Papieren in nicht weniger als zwanzig Archiven. Ein Abkürzungsverzeichnis hätte, auch mit Blick auf die zahllosen Akronyme katholischer Organisationen, dem Leser geholfen hier den Überblick zu bewahren. Horn beginnt seine Darstellung mit der Katholischen Aktion in den zwanziger und dreissiger Jahren. Er schildert die aktive Methode des Apostolats im Arbeitermilieu, welche die 1924 von Joseph Cardijn in Belgien gegründete Jeunesse Ouvrière Chrétienne (JOC) praktizierte. Er beschreibt sodann die wenig bekannte Verschiebung von einem an den sozialen Kontexten orientierten Apostolat zu einem mehr spirituellen Engagement, die Cardijn in den 1930er Jahren vollzog. Die französische JOC intensivierte dagegen in derselben Zeit ihre auf die Verbesserung der sozialen Situation von jungen Arbeitern gerichteten Aktivitäten. In der strikt hierarchisch organisierten Katholischen Aktion im Italien der 1920er und 1930er Jahre entdeckt Horn eine Tendenz «to pressure for autonomy and control from below» (49). Die Belege dafür sind allerdings mehr als dürftig. Sie reflektieren zudem wohl weniger eine politische Handlungsfähigkeit der Laien in der Katholischen Aktion als vielmehr eine Tendenz zur Generalisierung von Laienrollen im katholischen Vereinswesen, die in anderer Form im viel dichter gewebten Netz der rheinisch-westfälischen Vereine bereits kurz vor 1900 beobachtet wurde.

Das zweite Kapitel widmet sich Aufbrüchen in der französischen Theologie der dreissiger und vierziger Jahre, von der Christ-Königs Theologie über die von Yves Congar entwickelte Theologie des Laien bis hin zu christologischen Reflexionen und der Theologie von Jacques Maritain. Theologische Reflexionsfiguren entstehen, wie Horn zu Recht festhält, nicht in der einsamen Studierstube von Denkern, sondern in «fruitful interaction with the world outside their windows» (89). Es ist allerdings ein Manko seiner Darstellung, dass solche Zusammenhänge hier und auch in späteren Abschnitten, in denen die immense Bedeutung von Maritain für linkskatholische Zirkel zum Thema wird, mehr behauptet als tatsächlich nachgewiesen werden. Dafür hätte es, wie in den letzten Jahren verschiedentlich praktiziert, komplexerer Untersuchungen mit Hilfe diskurstheoretischer oder netzwerkanalytischer Verfahren bedurft, die allein erst die soziale Verankerung und Verbreitung von Ideen plausibel machen können.

Das dritte Kapitel konzentriert sich auf linkskatholische Initiativen und Persönlichkeiten im Italien vor und nach der Befreiung vom Faschismus, deren gemeinsamer Nenner in ihrer Öffnung für marxistische Ideen und für gemeinsame Aktivitäten mit der PCI lag. Während rein zahlenmässig gesehen die Ausstrahlungskraft dieser Initiativen gering blieb, so haben sie dennoch eine über die lokale und zeitliche Begrenzung hinausgehende Bedeutung als Ideenspender und symbolische Orientierungspunkte für die italienische Linke in den folgenden Jahrzehnten. Neben Parteien wie der nur kurzzeitig aktiven Partito Cristiano-Sociale, die Gerardo Bruni, Bibliothekar im Vatikan, seit 1941 aufbaute, waren es einzelne Priester, die zu Kristallisationspunkten lokaler und regionaler Aktivitäten an der ‹Basis› wurden. Zu ihnen zählte Don Primo Mazzolari, der 1949 mit der Zeitschrift Adesso das wichtigste Medium der Linkskatholiken in Italien schuf. Die Zeitschrift wie Don Primo selbst bis zu seinem Tod 1959 waren wiederholt das Ziel massregelnder Eingriffe von Ortsbischof und Heiligem Stuhl. Don Zeno Saltini, der seine Vision einer brüderlichen Gesellschaft in der Stadt Nomadelfia umzusetzen versuchte, die 1952 auf Intervention des Vatikans geschlossen werden musste, war eine andere wichtige Symbolfigur.

Im folgenden Abschnitt schreibt Horn die Geschichte des Mouvement Populaire des Familles (MPF) in Frankreich und Belgien von ihren Anfängen im Rahmen der spezialisierten Katholischen Aktion für verheiratete Paare 1935 bis zu ihrem organisatorischen Niedergang und der inneren Säkularisierung in den Jahren nach 1945. Er beschreibt die Radikalisierung der MPF, ausgehend von Aktionen zur Verbesserung der Ernährung von Arbeiterfamilien im besetzten Frankreich bis zu Hausbesetzungen im Namen kinderreicher Familien nach der Befreiung. Er diskutiert die Möglichkeiten zur Vergrösserung weiblicher Autonomie in der MPF und erklärt ihren Niedergang nach 1945 vornehmlich mit den Gründen für das rapide Wachstum seit 1941, als die Bewegung einen politisch sicheren Zufluchtsort für katholische Aktivisten im Vichy-Frankreich geboten habe (211). Das aber war eine Funktion die nach der Befreiung gegenstandslos wurde.

Das abschliessende Kapitel bietet eine ebenso detaillierte wie informative Geschichte der Bestrebungen zur Intensivierung des Apostolats in der französischen Industriearbeiterschaft in den vierziger Jahren, ausgehend von Henri Godin’s und Yvan Daniel’s epochemachendem Buch France: pays de mission? von 1943 über die Arbeit der Mission de France und Mission de Paris bis hin zur Bewegung der Arbeiterpriester. Während die Grundzüge dieser Initiativen bereits des öfteren dargestellt wurden, bietet Horn doch eine Fülle neuer Einsichten, nicht zuletzt auch durch die vergleichende Schilderung der bislang kaum erforschten Arbeiterpriester in Belgien (272–275).

Insgesamt legt Gerd-Rainer Horn mit diesem Buch eine aus den Quellen gearbeitete, vergleichende Geschichte des progressiven oder Linkskatholizismus in Westeuropa von 1924 bis 1959 vor. Er demonstriert die Fülle verschiedenster Bewegungen und Initiativen, die sich, oft aus dem Zusammenhang der Katholischen Aktion kommend, deren hierarchischen Rahmen dann allerdings transzendierend, zugleich um eine politische und soziale Aktivierung der Arbeiterschaft im Rahmen der Kirche wie um eine deren Lebenswirklichkeit angemessene Form des Apostolats bemüht haben. So überzeugend diese Darstellung ist, so wenig überzeugen die beiden Traditionslinien, in die Horn die von ihm geschilderten Aufbrüche hineinstellt. Er sieht zum einen das Zweite Vatikanum «as the ultimate […] product of the energies unleashed» durch die in diesem Buch analysierten «grassroots activists and forward-looking theologians» (291). Diese These ist aus mehreren Gründen problematisch. Zum einen unterstellt sie, dass die Reformleistung des Vatikanum mit dem politischen Code progressiv-konservativ hinreichend verstanden werden kann. Das aber ist kaum plausibel, es sei denn man setzte die in der Tat oft unter diesen Vorzeichen erfolgte Rezeption des Konzils mit diesem selbst gleich. Dem Konzil ging es aber nicht um einen Sieg der Linken oder ‹Basis› in der Kirche, sondern um eine Modernisierung der Kirche durch Anerkennung weltlicher «Fremdperspektiven» für ihre eigene Sendung, wie Elmar Klinger eindringlich formuliert hat. Auch die sozialen Konfigurationen der von Horn geschilderten Aufbrüche sprechen gegen seine These. In den Kooperativen der MPF wie in der experimentellen Siedlung Nomadelfia (183; 196; 172) ging es um den Aufbau progressiver Vergemeinschaftungsformen in lokal und regional verwurzelten und überschaubaren Formen. Der progressive Katholizismus bestimmte den sozialen Horizont seiner Erneuerungsvision als ‹face-to-face encounter›. Das Vatikanum situiert die Erneuerung der Kirche dagegen im Horizont der «Weltgesellschaft», um erneut Klinger zu zitieren. Darin liegt auch der Unterschied zur Befreiungstheologie seit 1968 begründet, als deren «erste Welle» Horn die in diesem Buch geschilderten Initiativen verstehen will. Von Cardijn bis zu den Arbeiterpriestern war die Befreiung der Arbeiterklasse ein vorwiegend in örtlichen Kontexten situiertes und konzipiertes Projekt. Die von der Befreiungstheologie inspirierten lateinamerikanischen Basisgemeinden agieren jedoch im Horizont der globalen Bedingtheit von Exklusion und progressivem Engagement. Es scheint mir auch nicht angängig, Jacques Maritain eine Schlüsselrolle als Ideengeber für die Befreiungstheologen zuzuweisen, wie dies Horn tut (296–300). Eine von ihm nicht rezipierte, auch methodisch innovative Studie zeigt dagegen auf, wie sehr sich diese Strömung einem durch die marxistische Pastoralsoziologie von François Houtart geknüpften Netzwerk verdankt (Andrea-Isa Moews, Eliten für Lateinamerika. Lateinamerikanische Studenten an der Universität Löwen in den 1950er und 1960er Jahren, Köln 2000), zu dem der Einfluss der sozialökonomischen dependencia-Theorie trat. Bei allem Respekt gegenüber der politischen Präferenz des Verfassers für linkskatholische Positionen scheint es mir insgesamt nicht angängig, die Geschichte des Katholizismus im 20. Jahrhundert in der sehr schematischen Gegenüberstellung von progressiv und konservativ, ‹emanzipatorischer› Basis und ‹verknöcherter› Hierarchie zu konzeptualisieren. Es gibt einfach keine Tendenz zur «quasi-organic emergence of an inner dynamic towards autonomy and self-determination» in sozialen Bewegungen «throughout the ages» (52). Für einen Sozialhistoriker sollte es sich eigentlich verbieten, überzeitliche ‹organische› Tendenzen zu postulieren. Diesen widerspricht die theoretisch informierte Einsicht, dass soziale Bewegungen ebenso oft an ihrer eigenen Überorganisation scheitern, oder aber auch, wie Horn an anderer Stelle selbst notiert, an der un-selbstbestimmten Abhängigkeit von charismatischen Führerfiguren (172). So informativ und empirisch beeindruckend die vergleichende Darstellung linkskatholischer Aufbrüche von Gerd-Rainer Horn ist, so wenig überzeugend ist ihre Kernthese und methodische Grundierung.

Zitierweise:
Benjamin Ziemann: Rezension zu: Gerd-Rainer Horn, Western European Liberation Theology. The First Wave 1924–1959, Oxford, Oxford University Press, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 103, 2009, S. 368-370.

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